Die ersten Gedanken waren wie Töne. Einfache, leise Töne, aber dennoch zusammenhängend und schön. Eine eigene Musik, ihr höchst eigenes Lied.

Sie weiß nicht mehr, wann genau die Töne kamen. Aber sie mischten sich in ihrem Kopf mit dem, was sie schon immer wusste. „Links, links, rechts, gerade aus.“ Umblicken. Da! Ein Ton. Ein… Funke? In ihrem Kopf? Die Töne tauchte besonders dort, an dieser einen Sackgasse auf. Immer, wenn sie daran vorbei kam, waren sie da, veränderte sich. Sie war gerne dort. Die Töne gefielen ihr.

Irgendwann waren die Töne mehr. Ein Lied. Ein Wort. Ein Gedanke. Dort war ein Riss in der Wand. Genau an dieser Sackgasse. Klein noch, ober der Gedanke sagte ihr, dass er dort eigentlich nicht sein sollte. Er war nie da gewesen und doch war er jetzt da. Und jedes Mal, wenn sie wieder kam um das Lied zu hören, wurde er größer. Das Lied änderte sich, formte neue Gedanken. Und der Riss wurde breiter. Eine Wurzel arbeitete sich dadurch hindurch und wie sich die Wurzel durch den Stein arbeitete, arbeitet auch das Lied in ihrem Kopf. Sie nahm ihre Umgebung endlich mehr wahr.

Graue Gänge, lang und verwinkelt. Sie waren ganz aus Stein. Jeder Stein sah anders aus, das wusste sie jetzt. Auch wenn der Weg und die Umgebung immer DA waren, in ihrem Kopf, konnte sie ihn nun wirklich wahrnehmen. Auch das Wissen darum, dass andere sich dort mit ihr befanden, war schon immer da. „Wo sind die anderen?“, sang eine Stimme. Sie schüttelte den Kopf, denn sie kannte die Antwort. Sie sollte ihnen nicht begegnen. So war es gedacht. So und nicht anders. „Links, Links, Rechts, gerade aus.“ Da war er. Ihr Platz.

In der Zwischenzeit wurde die Wurzel stärker. Es war als wollte sich etwas diesen Platz, ihr zuhause, erobern. Natürlich war ihr nun aufgefallen, dass die Gänge noch grauer wurden, die Steine zerfielen. Nur diese Wurzel wurde größer und schöner.

„Greif danach. Berühre sie!“, sang der Gedanke. „Fühle, wie sie geschaffen ist.“ Ohne zu zögern legte sie ihre Axt beiseite und gab dem Drang nach. Ihre Hände fühlten eine Wärme, die es hier sonst nur sehr selten gab und die sonst so schnell wieder erlosch. Doch das, was schon immer DA war, ließ sie wieder ihre Axt nehmen und weiter gehen. Noch war es stärker.

Sie zog wiedereinmal ihre Kreise, ging ihren Weg ab und hielt Ausschau… „Ja, nach was eigentlich?“, sang ihr Gedanke. „Ich weiß es nicht!“, brummte sie laut. Erschrocken blieb sie stehen und blickte sich um. „Was war das? Diese Stimme… kam sie von mir?“, erklang es in ihrem Kopf. Es hätte auch einer von IHNEN sein können. Sie zog etwas den Kopf ein, hob die Axt an und blickte sich um. Aber da war niemand außer sie selber. Oder? Den Gang weiter runter rumpelte etwas laut. Wütend drehte sie den Kopf in diese Richtung und der Befehl „Geh! Töte!“ wurde von dem Lied überspielt. Es klang kreischend, warnend. „Mein Platz!“, sang es in höchsten Tönen, dass ihr schwindelig wurde.

Sicher und schnell bewegte sie sich, die Axt erhoben, das wilde Lied in ihrem Kopf. Bereit, was auch immer ihren Platz zu bedrohen vermochte, stand sie in ihrer Sackgasse und starrte auf die Wurzel. Sie war plötzlich so riesig und drängte sich direkt in den Gang. Das Rumpeln war ein riesiger Stein aus der Decke, die nun zusammenzustürzen drohte. Dahinter Erde und Wurzeln. Grub sich wer in ihr Zuhause durch? Misstrauisch beäugte sie die Decke. Sie würde erst einmal hier bleiben. Nur zu aller Vorsicht.

Ihre Ruhepause verbrachte sie sitzend neben der Wurzel, die Axt neben sich gegen die Wand gelehnt. Auch wenn es sie eigentlich zurück auf ihren Weg drängte, so war doch das Lied lauter als der ursprüngliche Ruf, hielt sie auf IHREM Platz, versprach Geborgenheit. Während sie dem Lied lauschte, schloss sie die Augen und lehnte sich gegen die Wand. In ihrem Zuhause… nein, in ihrem Gefängnis war es still. Aber sie fühlte sich nicht einsam und, auch wenn sie wusste, dass es eigentlich so sein sollte, auch nicht leer. Das Lied und die Wurzel füllten sie mit Wärme und einer Art von Leben, dass vorher so nicht da war. Nie gedacht war da zu sein.

Es musste schon eine gewisse Zeit vorbei gegangen sein in der sie einfach stumm an der Wand gelehnt hatte, denn als sie die Augen öffnete, war die Wurzel gewachsen, hatte nun die ganze Sackgasse eingenommen und ragte wie ein Fremdkörper in die graue Welt der Steine. Einige Ausläufer hatten sich über ihre Beine gelegt, aber nicht bedrohlich, sondern sanft, wie eine Decke.

Ohne Mühen schob sie die Ausläufer der Wurzel beiseite und erhob sich, langsam, denn wo die Wurzel sie berührt hatte, breitete sich die Wärme weiter aus, legte ein wohliges Gefühl um sie. Als wäre ihre Bewegung ein Startzeichen rieselte Erde von oben herab. Die Wurzel brach vollends durch die Wand, riss ein Loch in die Mauer und die Erde. Kleinere Wurzeln legten sich um das Loch, kleideten es aus, als wollten sie es vor dem Einsturz bewahren.

In ihrem Kopf tanzte das Lied, feierte die scheinbare Freiheit, die vor ihr lag. Es wurde ihr recht schnell bewusst. Das war ihre Chance aus diesem Gefängnis zu entkommen und zu sehen, was alles hinter den Steinen und den Gängen lag. Es musste mehr geben als das hier, mehr als Befehle in ihrem Kopf, mehr als der Weg, den sie immer und immer wieder ging.

Sie setzte den ersten Huf auf die Wurzel. Fast hatte sie angst die Wurzel könne unter ihrem Gewicht brechen und würde es ihr so unmöglich machen das Loch, welches sich schräg vor ihr befand, zu erreichen. Aber sie hielt. Das leichte Wippen verschwand und sie zog sich sicher auf die Wurzel. Jetzt, wo der ganze Körper darauf war, umgab sie die Wärme voll, gab ihr eine Sicherheit, die sie schneller und bestimmt zum Loch gehen ließ. Als sie dort angekommen war, drehte sie sich um. Hinter ihr lag ihre kleine, graue Welt. Eine Welt, die ein Gefängnis war, aus der sie nie hätte entkommen sollen. Und eine Welt, in der sich nun weitere Wurzeln durch die Steine schoben, die verwitterte, die zusammen brach und sich im Sterben befand.

Das Lied spielte lauter in ihrem Kopf, zwang so ihren Blick wieder nach vorne. Auf die Zukunft. Auf das, was noch kommen mag. Sie blickte in das Loch. Ein Tunnel tat sich dahinter auf, gestützt durch ein Netz aus Wurzeln, erfüllt von dem Geruch von Erde und Wald und… noch etwas. Ohne Mühe machte sie sich an den Aufstieg. Etwas oder jemand schien ihr helfen zu wollen. Erfüllte sie beim Klettern mit Geborgenheit, mit der Gewissheit, dass es ihr dort gut gehen würde. Dort, am anderen Ende des Tunnels. In ihrem Kopf wurde das Lied leiser. Als würde es warten, als würde es die Luft anhalten vor dem, was vor ihr lag. Gespannt, genau wie sie, und doch voller Vorfreude.

Es dauerte Stunden, zumindest kam es ihr so vor, und das Loch vor ihr wurde größer, kam näher an sie heran und gab einen Blick auf eine helle Schwärze frei. Stück für Stück arbeitete sie sich vor. Der Geruch war nun intensiver. Diesen modernden Geruch von Wald kannte sie schon von unten, aber dieser neue, süßliche Geruch war etwas Neues. Er brachte sie zum Lächeln, zeigte ihr, dass die Welt dort oben nicht eintönig und grau war, sondern wunderschön und lebendig.

Mit ihren großen Händen griff sie nach dem Rand des Loches und schob sich hindurch. In eine laute, lebendige Welt die sie in all ihrer dunklen Pracht empfing und ihr die Tränen in die Augen trieb. Das Lied tanzte vor Freude, untermalte den gewaltigen Eindruck mit lauten, springenden Tönen und nahm ihr so kurzzeitig die Luft. Sie musste nur noch ihren Huf auf den Boden stellen und sie hatte ihr Gefängnis verlassen, ihr altes Leben hinter sich gelassen. Die Befehle in ihrem Kopf, nur noch ein Schatten, ließ sie alles zurück, was sie einmal war. Ein Lehmklumpen, gefüllt um zu dienen, um eine Aufgabe zu erfüllen, um Eindringlinge zurück zu schlagen. Nun wollte dieser Lehmklumpen mit Leben gefüllt werden. Mit dem, was wirklich war.

Als sie nun endgültig neben dem Loch stand, sah sie über eine Weite hinweg, die sie nicht kannte. Überall vor ihr lag Wald, ein einziges Blättermeer. Ihr Blick wanderte nach oben, wo sonst immer ihr Blick nach wenigen Zentimetern gestoppt wurde. Sie sah ein weites Blätterdach, dass sich riesig und schützend über sie spannte. Einige kleine, helle Lichter funkelten hier und dort hindurch und ein riesiger Ball brachte alles zum Funkeln. Der Mond… es kam mit dem Lied, geflüstert in ihrem Kopf. Zusammen mit dem Rauschen der Blätter und der anderen Geräusche um sie herum bildete das Lied nun eine Symphonie. Feierte ihre Freiheit.

Und als hätte sie jemand gerufen, wandte sie ihren Blick nach links. Nur ein paar Schritte weiter war ein riesiger Baumstamm. Gewaltig ragte der Baum in den Himmel und mündete in das Blättermeer über sie. Sie musste zu ihm. Er rief sie, das fühlte sie. Und je näher sie kam, desto lauter wurde der Ruf, desto klarer wurde er. Sie fühlte sich so klein neben diesem Riesen und dennoch hatte sie keine Angst vor ihm. Wurde freundlich empfangen von Blumen, deren süßlichen Gerüche ihre Sinne betäubten und sie begleiteten auf ihrem Weg zu ihrem Befreier.

Sie streckte die Hand aus und berührte den Stamm, streichelte ihn und lächelte ihn an. Einem Instinkt folgend legte sie ihre Stirn daran, vorsichtig bedacht ihn nicht mit ihren Hörnern zu verletzen.

„Dein Weg beginnt hier erst, mein Kind.“ Die Worte waren einfach da. Geschrieben hinter ihrer Stirn, um tanzt von der Musik in ihrem Kopf und sie verstand. Es war ein Geschenk und dieses wollte sie dankbar annehmen. Sie nahm die Stirn von dem Stamm, streichelte nochmal über die Rinde und drehte sich um. Vor ihr ragte eine Wurzel aus dem Boden, so groß wie sie selbst, aber dürr. Bedächtig griff sie danach. Ihre Hand wurde warm und ohne ein Geräusch zu machen, löste sich die Wurzel. Wie einen Teil ihrer selbst, nahm sie sie an sich. Nun wäre ihr Retter immer bei ihr. Noch einmal sah sie zurück, nickte und begann ihren neuen Weg in eine andere Zukunft.