Die Völker der Welt, die Elfen und Trolle, die Zwerge und Gnomen, sie alle kennen und verehren die Naturgottheiten, den Wolfsgeist und den weißen Hirschen, den Panther, den Greifen, die großen Bäume der ewigen Wälder, die Schatten der tiefen Ozeane. Im Anfang, als diese Völker jung waren, als ihre Zahl noch zunahm, als sie sich ausbreiteten und die Welt in Besitz nahmen, da gab es auch noch ein anderes Tier, was sie verehrten, ein Tier, das wie kein anderes für Glück und Fruchtbarkeit steht, ein schneller Läufer, ein geschickter Staaten-Gründer, ein listenreicher Helfer. Aber diese Zeiten sind lange vorbei, diese Völker schwinden dahin.

Es gibt ein neues Volk, ein junges Volk, ein Volk, das Abenteuer sucht, Kriege führt, zu Tausenden stirbt und in ihrer Zahl doch beständig zunimmt, weil es lebt und liebt und an das Glück glaubt. Sie nennen sich Menschen. Die Menschen sind anders als die anderen Völker. Da ihre Lebensspanne so kurz ist, leben sie schneller und intensiver, vertrauen auf Glück mehr als auf Weisheit. Die Menschen sind genauso bedroht wie die Meinen, aber sie gehen ganz anders damit um: Wo wir akzeptiert haben, dass wir ständig gejagt und gefressen werden, haben die Menschen Mechanismen entwickelt, um diese leidige Tatsache zu verdrängen. Sie verehren Stärke und Wagemut, verachten das vermeintlich Schwache und Verletzliche, und suchen im abstrakten Göttlichen Schutz. Natürlich werden sie trotzdem gefressen. Ich könnte ihnen helfen, ich bin ein Glücksbringer. Aber dazu müßten sie an mich glauben. Mit meinem weichen, flauschigen Fell, meinen hübschen langen Ohren, meinen kräftigen Hinterpfoten und dem wunderbar wippenden Schwanz sollte eigentlich jeder Narr erkennen, dass ich ein Gott bin, aber wie gesagt, die Menschen sind seltsam und unberechenbar. Trotzdem muss ich es versuchen.

Ich bin noch nicht sehr lange ein Gott. Ich bin auch nicht wirklich der einzige. Wir sind ein Volk der vielen, und deswegen hat auch der Kaninchenprinz viele Inkarnationen. Ja, jetzt ist es heraus, ich bin ein Kaninchen. Nicht irgendein Kaninchen: ich bin weiss, und wie jeder weiß, sind wir vom Kaninchen Gott berührt. Weiße Kaninchen können mit jedem Wesen auf der Welt in seiner Sprache reden. Das ist unsere Gabe, das und das Glück. Es ist ja offensichtlich, dass weiße Kaninchen Glück bringen: wenn wir nicht eine besondere Portion Glück hätten, würden wir mit unserem auffälligen, weißen Fell nie das Erwachsenenalter erreichen. Mein Name ist Schnee - und nicht Fluffybunny, wie meine Wurfgeschwister mich respektlos getauft haben - einfach Schnee.

Ich hoffe wirklich, dass ich genug Glück vom Kaninchenprinzen abbekommen habe, denn im Moment braucht mein Bau jedes bischen Glück, dass wir kriegen können. Trolle haben uns immer schon gejagt, genau wie Füchse und Eulen und Greife und Luchse und all die anderen Raubtiere, aber im Moment werden es immer mehr, und sie werden immer hungriger. Sie graben und stellen Schlingen, sie jagen uns mit abgerichteten Frettchen und mit Pfeil und Bogen. Wir brauchen Hilfe!

Und deswegen bin ich jetzt in diesem Dorf. Es ist eine mondhelle Nacht, die meisten Menschen schnarchen in ihren Häusern, aber ein paar sind immer nachtaktiv. Ich beobachte schon eine Weile dieses große Haus. Die meisten Menschen haben das Haus schon längst verlassen, aber da kommen noch zwei, sie schwanken ein bischen und halten sich aneinander fest, und sie laufen in Richtung Dorfrand. Sie haben ein Flasche in der Hand und lassen sich lachend ins Gras fallen. Ich hoppele unter einem Busch hervor ins silberne Mondlicht, dass mein Fell leuchten läßt und räuspere mich höflich: “Verehrte Helden, ich muß Euch vor einem großen Unbill warnen, welches diesem Orte dreut!”. “Guck ma da! Da isch ein Karremovedl! Und dasch Karremovedl redet!” Der kleinere der beiden hat sich im Arm des größeren festgekrallt und zeigt mit der freien Hand auf mich. “Verdammt! Diescher Haderlump von Wirt hat uns schlechten Schnaps verkauft!” “Du meinst …? Oh nein, werden wir jetzt blind?” Der größere wirft entsetzt die Flasche im hohen Bogen weg. “Isch seh Sachen, diesch gar nich gibt! Geh weg!” ruft er mir zu. Ich tue das genaue Gegenteil, ich hoppele direkt auf ihn zu. Da rappelt er sich auf und läuft schreiend ins Dorf zurück. In den Häusern werden Lichter angezündet, Türen gehen auf, und ich verschwinde lieber wieder, hoppele zurück ins Dickicht, wo ich einen bewußtlosen Troll finde, der augenscheinlich eine Flasche an den Kopf bekommen hat. Ich sage es ja, ich bin ein Glücksbringer und morgen gehe ich wieder ins Dorf und suche meinen Helden, der uns alle vor den Trollen rettet.

Von Linda Mende