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    fedilink
    53 years ago

    Für alle die kein abbo bei der LVZ haben:

    "Genau zwei Jahre nachdem Sayed Ahmad Shah Sadaat versuchte, einen chinesischen Satelliten ins All zu schießen, um die afghanische Landbevölkerung mit Handynetz zu versorgen, schiebt er in orangefarbener Lieferdienstkleidung ein Mountainbike auf die Leipziger Eisenbahnstraße. Das Rad hat Sadaat gebraucht gekauft. Der 50-Jährige benötigt es, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. 400 Euro kostet seine Wohnung im Osten der Stadt. „Ich führe jetzt ein einfaches Leben“, sagt er. 2018 war das noch anders.

    Afghanistans Präsident Aschraf Ghani hatte ihn in sein Kabinett geholt. Als Kommunikationsminister regierte er ein Land mit, in dem bald nichts mehr wie früher sein würde. Wie bitte, ein afghanischer Ex-Minister fährt jetzt in Leipzig Essen aus?

    Bei Spinatbörek und Cappuccino erzählt Sadaat seine Geschichte. Die Dienstkleidung lässt er an, seine Schicht beginnt in zwei Stunden. Afghanistan leidet unter dem Brain Drain: Er stamme, erzählt Sadaat, aus Nangarhar, tief im Osten Afghanistans. Die Eltern, beide Lehrer, investieren all ihr Geld in die Ausbildung ihrer acht Söhne. Sadaat geht zum Studieren ins britische Oxford und arbeitet für einen Stromanbieter. Später spezialisiert er sich auf die Entwicklung von SIM-Karten. Er arbeitet für Swisscom in Lausanne, für Telecom Italia in Mailand, für Motorola in Großbritannien. Und Sadaat verdient gut, er hat ein Haus in Oxford, vor dem er sonntags seinen Range Rover wäscht.

    In seiner Heimat Afghanistan steht Sadaat aber für ein Problem. Er ist einer von knapp drei Millionen Afghanen, die lieber international Karriere machen, anstatt in ihrer Heimat zu leben. Die Abwanderung von Wissen und jungen Kräften, der sogenannte Brain Drain, macht dem Land zu schaffen. Nach vier Monaten wird er Ministeriumschef: Aber Sadaat kehrt zurück. Weil ein alter Kollege mit guten Kontakten in die afghanische Regierung überall von dem talentierten Mobilfunkspezialisten aus Europa erzählt, bekommt er im Frühjahr 2016 einen Anruf: Aus dem Büro von Präsident Aschraf Ghani. Man habe ein Angebot für ihn, sagt man ihm. Er, Sadaat, könne etwas für sein Land tun. „Ich bin heimatverbunden“, sagt Sadaat. Sein Leben in England ist damals zwar komfortabel, aber es ist auch einsam. Er sagt dem Präsidenten zu. Im Juli trifft er in Kabul ein.

    Er erhält einen Posten im Kommunikationsministerium. Er findet eine Frau. Als sein Chef vier Monate später wegen Korruption gekündigt wird, rutscht Sadaat an die Spitze des Ministeriums. Sayed Sadaat nimmt einen Schluck Cappuccino. Anfangs hat er gezögert, einer deutschen Zeitung ein Interview zu geben. Schließlich leben in Leipzig andere Afghanen. Unter ihnen vermutet Sadaat auch Anhänger der Taliban, von ISIS. Was, wenn ihm die, vor denen er aus Kabul flüchtete, hier etwas antun? „Sie wollten auch an mein Budget“: Dann sagte er doch zu. „Ich fühle mich sicher in Deutschland“, sagt er. „Die Polizei ist hier nicht korrupt, die Politik auch nicht.“ In Afghanistan, sagt Sadaat, sei das anders. Und offenbar wird ihm das zum Verhängnis. Ende 2018 vermelden afghanische Medien den Rücktritt des Ministers Sadaat. Weshalb? Man kann seine Version nicht überprüfen, aber sie geht so: Weil die Taliban im ganzen Land auf dem Vormarsch ist, bereiten einzelne Regierungsmitglieder ihre Exit-Strategie vor. Dafür zweigen sie aus allen Ministerien Geld ab. „Sie wollten auch an mein Budget“, sagt Sadaat. Doch er habe sich gesträubt, erzählt Sadaat. Stattdessen habe er weiter investiert. In Internetzugänge für alle Moscheen und ihre Mullahs. Und, sein größtes Projekt, in den Satelliten, den Afghanistan mit chinesischer Hilfe ins All schießen will und der das ganze Land mit Handynetz abdecken soll. „Ich bin technisch auf dem Stand von 2016“: „Wenn jeder Mullah und jeder Dorfbewohner Internet hätte, dann wären wir ein gebildetes Land“, sagt Sadaat. „Vielleicht hätte auch die Taliban weniger Fans.“ Weil er ihr Spiel nicht mitspielt, habe ihn Ghanis Regierung zum Rücktritt gezwungen. In der afghanischen Presse gilt der Vorgang als unaufgeklärt. Aber im August 2021 fliehen Präsident Ghani und seine Vertrauten tatsächlich – mit einem Helikopter voll Geld. Sadaat verlässt das Land schon früher. Dank seiner Reputation arbeitet er noch bis Ende 2020 als Berater. Im Dezember flieht er per Flugzeug nach Leipzig. „Hier habe ich zwei Freunde“, sagt er. Seine alte Heimat Großbritannien kommt wegen des Brexit nicht infrage. Auf der Eisenbahnstraße kommt Sadaat unter. Das ganze Frühjahr über schreibt er Bewerbungen, auch nach Dresden. Aber er erhält nur Absagen: Seine Expertise ist nicht mehr ganz zeitgemäß. „Ich bin technisch auf dem Stand von 2016“, sagt er. „In meinem Job sind das Jahrzehnte.“ Sein Traum: Die Telekom: Seine größte Expertise hat Sadaat in afghanischen Netzfragen. Er weiß, in welchen Bergdörfern es noch kein Internet gibt. Er kennt die Mullahs, deren Einfluss man braucht, um Projekte anzuschieben. Aber dieses Wissen ist plötzlich wertlos geworden – in Kabul regieren die Taliban. Im Mai ist Sadaats Geld alle. Er beginnt, für Lieferando zu arbeiten. Er möchte sparen, um sich Deutschkurse leisten zu können. Dann möchte er Weiterbildungen besuchen. Sein Traum ist es, eines Tages für die Telekom zu arbeiten. Von Josa Mania-Schlegel"